Freitag, 12. Juni 2015

Gestern in der Praxis: Warum wir viel mehr Einhörner brauchen

Felix ist zwölf. Er kommt seit ca. einem Vierteljahr zu mir, weil er Probleme mit der Rechtschreibung hat. Felix ist das, was manche als einen "normalen" Jungen bezeichnen würden - er ist nicht sonderlich auffällig und wirkt ausgeglichen. In der Schule gibt es hin und wieder mal Ärger, weil er Dinge, die ihn stören, sehr gern und lange ausdiskutiert, doch sonst hat er ein gutes Verhältnis zu Mitschülern und Lehrern. In seiner Freizeit treibt er Sport und spielt Schlagzeug - er ist ausgelastet, aber scheinbar nicht überfordert.
Einzig seine Familiensituation ist eine offensichtliche Herausforderung für ihn. Er lebt in einer klassischen Patchworkfamilie, hat vor einiger Zeit quasi "über Nacht" zwei ältere Stiefgeschwister dazu bekommen, nun ist auch noch ein kleiner Bruder geboren. Beide Eltern sind berufstätig, so dass Felix sich meist selbst organisiert - und das macht er bewundernswert gut.
Ich mag ihn sehr, er ist witzig, manchmal ein bisschen kiebig und wir haben viel Spaß in den Stunden.

Gestern jedoch war etwas anders als sonst. Felix wirkte ein bisschen müde und abgespannt und sagte, der Tag sei anstrengend gewesen. Auf meine Frage, ob er denn nachts gut schlafen könne, bekam ich eine ungewöhnliche Antwort: "Ja, ich kann jede Nacht gut schlafen. Denn nachts bin ich ja ein Einhorn!" Zuerst dachte ich, er wolle mich veräppeln, wie er es gern mal tut, doch es fehlte das schelmische Blitzen in seinen Augen. Er sah mich ganz ruhig an und schien zu überlegen, ob er weiterreden solle. Als er es dann tat, malte er eine Welt, die mich zutiefst berührte:

"Jede Nacht, wenn ich einschlafe, öffnet sich ein Tor und ich bin in der Welt der Einhörner. Ich bin dann kein Mensch mehr, sondern ein Einhorn. Ich bin blau, mit goldener Mähne und goldenem Schweif. Es gibt nicht viele Einhörner, die fliegen können, aber ich bin eines von ihnen. Ich bin ein Wald-Einhorn, es gibt noch Fluss-Einhörner, Schnee-Einhörner und Sturm-Einhörner. Jedes hat sein eigenes Zeichen." Er nahm ein Blatt Papier, malte die unterschiedlichen Zeichen auf  und erklärte mir ganz genau, was sie bedeuten. Dann sprach er weiter: "Meine Mutter ist ein Schnee-Einhorn, mein Vater auch ein Wald-Einhorn, aber beide können nicht fliegen. Ich habe keine Geschwister, Einhörner haben nie Geschwister. Wir leben alle zusammen und es gibt nie Krieg oder Streit. Wir haben den Großen Rat, der passt auf uns auf. Das sind die stärksten und mächtigsten Einhörner, so dass uns nie etwas passieren kann. Jedes Einhorn hat eine Zauberkraft. Meine Zauberkraft ist, dass ich die Zeit anhalten kann. Wenn etwas Schönes passiert, dann ist es, als wenn das niemals endet."

Er erzählte mir, wie der Wald aussieht, in dem er lebt, was er als Einhorn empfindet und er zog mich damit völlig in seinen Bann, so dass ich es irgendwann wagte, Fragen zu stellen - zum Beispiel, ob er einen anderen Namen hätte in der Einhornwelt und ob es Zufall sei, ob man als Wald- oder Schnee-Einhorn geboren werde. Auf wirklich jede meine Fragen hatte er eine Antwort, ohne auch nur ein bisschen nachdenken zu müssen. So erzählte er mir beispielsweise, dass er nicht Felix heiße in der Einhornwelt, dass er seinen Namen als Mensch jedoch nicht aussprechen könne. Und dass die Stelle der Geburt entscheide, ob man ein Wald-, Schnee-, Fluss- oder Sturm-Einhorn werde. Damit die Einhorn-Mütter dies jedoch nicht beeinflussen können, dauere eine Schwangerschaft immer unterschiedlich lange und die Geburt ginge ganz schnell und schmerzfrei.

Er erzählte mir ganz viele zauberhafte Details und war dabei völlig ruhig und entspannt. Ich hatte den Eindruck, dass er in dieser Welt wirklich zuhause ist.
Dass es für ihn nichts Ungewöhliches zu sein scheint, zwischen dieser und der realen Welt zu pendeln, merkte ich, als er am Ende seiner Erzählung angekommen war. Er machte eine kurze Pause, sah mich dann an und fragte: "Sag mal, können wir noch schnell Deutsch-Hausis machen? Dann brauche ich das Zuhause nicht mehr zu machen, ich treffe mich nachher mit einem Freund, wir wollen Fifa zocken!" Ihm fiel es nach diesem Ausflug in die Einhorn-Welt nicht halb so schwer wie mir, sich auf die Bestimmung der Satzglieder in seinem Deutschbuch zu konzentrieren. Eine Frage stellte ich ihm noch: Ob er denn auch schon Anderen von der Einhorn-Welt berichtet habe. Seine Antwort: "Ja, Mama. Aber die hat gelacht und gesagt, ich soll nicht so viel fernsehen."

Warum ich das erzähle? Einmal, weil ich immer noch ganz ergriffen bin von der Stunde. Von diesem Jungen mit seinen abgeschürften Knien, den Sommersprossen und den Schokoladenflecken auf dem T-Shirt, der mich mitnahm an seinen Rückzugsort - einem Ort ohne Probleme, ohne Stress, ohne Angst, weit weg vom Alltag.
Zum anderen, weil ich mir wünsche, dass Eltern in der Lage sind, die Geschichten ihrer Kinder nicht nur zu hören, sondern zu verstehen - oder es zumindest versuchen. Dass Erwachsene diesen wunderbaren Geschichten ganz ohne Wertung lauschen und die Kinder ernst und wichtig nehmen. Und nicht zuletzt, weil ich uns allen eine Einhornwelt wünsche - ich bin sicher, dass die auch die reale Welt ein bisschen besser machen würde.

Nicole Fischer

Dienstag, 28. April 2015

Gestern in der Praxis: Im Netz gefangen?

Daniel (alle Namen geändert) ist zehn. Er hat große Probleme mit der Rechtschreibung und auch in Mathe werden die Schwierigkeiten immer größer, so dass er seit einem knappen Monat zu mir in die Lerntherapie kommt.

Bevor wir mit der Stunde beginnen, bitte ich ihn, sein Smartphone auszuschalten, das fast ohne Unterlass piepst. Er schaltet den Ton aus und legt das Handy auf den Tisch. O.k., denke ich, solange es keine Geräusche macht, ist ja alles gut... Wie naiv! Daniel schaut mich zwar an und tut so, als würde ihn interessieren, was ich sage, doch alle zwei Sekunden wandern seine Augen zu seinem Telefon, auf dem ständig Nachrichten aufblinken.

Ich spreche ihn darauf an und versuche ihm zu erklären, dass eine Unterhaltung so ja kaum möglich sei, wenn er sich nur auf sein Handy konzentriere. Meiner Aufforderung, das Telefon jetzt wirklich auszuschalten, kommt er sehr widerstrebend nach. Ich bitte ihn, die Augen zu schließen und mal in sich zu spüren. Wie fühlt er sich jetzt, wo das Handy aus ist? "Schlecht!", kommt die prompte Antwort. Ich frage ihn: "Wenn ich dich bitten würde, ein Bild darüber zu malen, wie du dich jetzt fühlst, wie würde das wohl aussehen?" Was er beschreibt, finde ich wirklich beeindruckend: Es hängen ganz viele Fäden von der Decke, an denen er befestigt ist. Und man sieht eine große Schere, die die Fäden durchschneidet, so dass er gleich abstürzt. Danach fehlen mir wirklich erstmal die Worte - noch deutlicher kann man eigentlich nicht beschreiben, dass man sich abgeschnitten fühlt und dass das einem "Absturz" gleichkommt. 

Lisa kommt gleich in der Stunde nach Daniel. Lisa ist dreizehn. Sie kommt zu mir, da sich ihre schulischen Leistungen in den letzten beiden Schuljahren sehr verschlechtert haben. Der Grund dafür ist nicht schwer zu finden: Lisa wurde fast ein Jahr lang ganz heftig gemobbt - in ihrer WhatsApp-Klassengruppe. Es hat lange gedauert, bis sie den Mut fand, sich einer Lehrerin anzuvertrauen. Sie wechselte die Schule, bekam Hilfe vom Schulpsychologen und fängt gerade erst wieder an, ein normales Teenagerleben zu führen.  

Daniel und Lisa sind recht extreme, aber keinesfalls Einzelfälle. 

Damit wir uns nicht falsch verstehen: Ich bin wirklich die Letzte, die Smartphone, Computer und Co. pauschal in die Tonne treten will - wer mich kennt, weiß, dass ich mein Smartphone sehr gern habe (ja, o.k., ich liebe es...), auf meinen PC keinesfalls mehr verzichten will und mich z.B. auch des öfteren auf Facebook tummele. Und doch mache ich mir Sorgen.

Fast jeder "meiner" Grundschüler hat einen eigenen Fernseher, die meisten mindestens eine Konsole. iPad, Laptop, PC sind fast schon eine Selbstverständlichkeit. 

Ja, das ist der Zeitgeist. Und ja, es stecken sicher auch Ressourcen in diesen Geräten, die man nutzen kann, auch für das Lernen. Was mir Angst macht, ist die Tatsache, dass wir noch nicht absehen können, was diese mediale Überflutung mit unseren Kindern macht. Wenn Eltern im Gespräch sagen, dass sie den Medienkonsum ihrer Kinder im Blick haben, so kann ich nur erwidern, dass das in den meisten Fällen eine Illusion ist. Nicht erst ein Schüler hat mir erzählt, dass er, wenn die Eltern denken, er schlafe, noch ein wenig das Tablet hervorholt. Auch nachts, wenn sie aufwachen, schauen viele Schüler schnell einmal auf das Handy, um zu sehen, ob sie irgendetwas verpasst haben. Doch auch, wer den Kindern abends im übertragenen Sinne den Stecker zieht, weiß noch lange nicht, was sich in diversen WhatsApp-Gruppen, bei Facebook etc. tut. Denn es geht ja oft gar nicht um die Hardware an sich, sondern darum, dass es Eltern nur schwer möglich ist, die Kontrolle über Inhalte zu behalten - bei aller guten Absicht.

Was Studien belegen, kann ich aus meiner Erfahrung als Lerntherapeutin bestätigen: Häufiger Medienkonsum ist der Konzentrationskiller Nummer eins. Mal abgesehen davon, dass es immer wieder vorkommt, dass ich mitten im Satz unterbrochen werde: "Du, kann ich dir mal schnell das Gebäude, das ich auf "Minecraft" gebaut habe / mein neues Baby bei den "sims" / meinen Highscore bei "Paper Toss" (beliebig erweiterbar) zeigen?", können sich Kinder und Jugendliche, die sich oft mehrere Stunden am Stück mit elektronischen Medien beschäftigen, häufig nicht sehr lange auf etwas anderes (wie den Aufsatz, die Matheaufgaben etc.) konzentrieren. Medienentzug wird von Eltern immer öfter als Strafe eingesetzt und viele Kinder haben dann regelrechte Entzugserscheinungen, was uns zu denken geben sollte.

Was kann man tun?

Ein "Allheilmittel" gibt es meiner Meinung nach nicht. Ich bin keine Freundin von Komplettverboten. Elektronische Medien sind heutzutage überall, es ist so gut wie nicht möglich, Kinder (und vor allem Jugendliche) davon fern zu halten. Aber man kann

  • von klein auf einen verantwortungsvollen Umgang mit elektronischen Medien üben (und zwar konsequent).
  • den Kindern schon sehr früh zeigen, dass PC, Konsole und Co. zwar Spaß machen, es aber in der realen Welt auch so vieles gibt, das mindestens genauso interessant ist.
  • verhindern, dass der Fernseher oder PC zum Babysitter wird, indem man sein eigenes Verhalten immer wieder hinterfragt. 
  • Interesse zeigen, immer wieder nachfragen und sich zeigen lassen, was die Kinder spielen oder wo sie im Netz unterwegs sind.
  • für jüngere Kinder Startseiten wie "Blinde Kuh" einrichten, auf denen sie weitestgehend sicher surfen.
  • sich fragen, ob das Kind wirklich schon auf WhatsApp, Facebook etc. unterwegs sein sollte.
  • feste Bildschirmzeiten vereinbaren und sich auch konsequent daran halten.
  • abends Tablets und Handys aus Kinderzimmern entfernen - ein guter, alter Wecker auf dem Nachttisch tut es auch. Das hat nichts mit mangelndem Vertrauen, sondern mit Schutz zu tun. Wenn es von Anfang an so gehandhabt wird, werden sich die Diskussionen in Grenzen halten (und wenn die Kinder eh' nicht schummeln wollten, gibt es ja auch gar keinen Grund für Diskussionen... ;-)). 
  • sich klar machen, dass Kinder durch Vorbilder lernen. Wenn Eltern selbst das Smartphone nie aus der Hand legen, ständig vor dem Bildschirm sitzen und das Wochenende vor der Konsole verbringen, ist es ja fast schon lächerlich, vom Kind etwas anderes zu erwarten...
  • sich Hilfe holen, wenn man merkt, dass man das Medienproblem allein nicht mehr in den Griff bekommt. Der Kinder- und Jugendarzt z.B. kann eine erste Anlaufstelle sein, der dann an spezielle Hilfsangebote verweist. 

Wenn man darüber nachdenkt, dass diese Medienflut in weniger als einer Generation über uns geschwappt ist, wird klar, dass die Herausforderungen an die Erziehung nicht gerade kleiner geworden sind. Es ist sicherlich manchmal sehr anstrengend, hier den Überblick zu behalten und konsequent zu bleiben. Aber das darf auf keinen Fall als Ausrede dafür dienen, zu resignieren, nach dem Motto: "Da kann ich ja eh' nichts machen!" Nicht geändert hat sich, dass wir die Verantwortung für unsere Kinder tragen - und dieser Verantwortung dürfen und sollten wir uns nicht entziehen.