Mittwoch, 29. August 2012

Ich zeige dir, was du kannst, was du nicht kannst, weißt du selbst...

Unser Schulsystem ist extrem defizitorientiert ausgelegt. Den Schülerinnen und Schülern wird mit viel roter Tinte aufgezeigt, was sie falsch machen und nicht können, statt andersherum ihre Stärken zu erkennen und diese Ressourcen zu nutzen.

Thema Diktat: Lisa ist neun Jahre alt und besucht eine dritte Grundschulklasse irgendwo in Lübeck. Seit ihrer Einschulung hat sie große Probleme im Fach Deutsch, besonders mit der Rechtschreibung. Trotzdem lernt sie vor jeder Arbeit sehr fleißig, immer in der Hoffnung, dass sie doch mal weniger Fehler macht. Wenn die Lehrerin die Arbeiten zurückgibt, ist sie schrecklich aufgeregt: Vielleicht ist es ja diesmal gut gegangen... Dann der Schreck: Ihr Text ist übersät mit roter Tinte, es prangt eine große 5 unten auf der Seite, daneben ein Satz, der, würde man die Lehrerin fragen, wohl motivieren soll, jedoch den gegenteiligen Effekt hat. Es wird nicht mehr lange dauern und Lisa wird nicht mehr für Arbeiten lernen - warum denn auch?

Aber würde es auch anders gehen? Um zu erreichen, dass die Schülerinnen und Schüler sich wirklich wertgeschätzt fühlen, dass ihre Stärken grundsätzlich anerkannt und an ihren Schwächen wohlwollend und ohne erhobenem Zeigefinger gearbeitet wird, müsste es eine umfassende Reform - oder besser Revolution - des Schulsystems geben. Zu Vieles noch ist verfangen in überholten Konzepten und Methoden. Allerdings kann durch kleine Veränderungen auch schon eine Menge bewirkt werden:

Zunächst ist da diese unsägliche rote Tinte. Die allermeisten Kinder geben sich während einer Klassenarbeit große Mühe, sie schreiben so ordentlich wie es geht. Und dann kommt ein Erwachsener daher und kritzelt mit seinem roten Stift kreuz und quer in das Geschriebene, streicht durch, bessert aus, merkt an. Das hat in meinen Augen mit Respekt und Wertschätzung nicht allzu viel zu tun, es muss dem Schüler vorkommen wie ein arrogantes: "Tja, das hast du nun davon!". Mal abgesehen davon, dass es Untersuchungen gibt, die besagen, dass sich so deutlich angemarkerte Fehler erst recht einprägen...
Es gibt hingegen Schulen, in denen fast ausschließlich mit Bleistift korrigiert wird, mein Sohn besucht eine solche. Es ist keinesfalls so, dass die Schüler über die Fehler hinwegsehen oder sie nicht wahrnehmen. Aber sie fühlen sich respektvoller behandelt und das ist meiner Ansicht nach doch das Wichtigste im Umgang miteinander. 

Unter Lisas Arbeit steht: 26 Fehler. Lisa liest daraus: Du hast 26 mal etwas falsch gemacht. Ja, das ist ohne Zweifel viel.
Der diktierte Text besteht jedoch aus 59 Wörtern. Das heißt im Umkehrschluss, dass Lisa 33 Wörter richtig geschrieben hat. Warum steht das nirgendwo? Denn es ist für ein rechtschreibschwaches Kind eine große Leistung, 33 Wörter richtig zu schreiben - und sogar im Wort "Fahrrad" hat sie das "h" nicht vergessen, wie sonst beim Üben. 
Es geht nicht darum, die Fehler klein zu reden, es geht vielmehr darum, anzuerkennen, was das Kind für eine Leistung erbracht hat, denn das hat es ja trotz allem. (Das kann man auch wunderbar als Eltern zuhause machen, egal ob im Diktat oder der Mathearbeit - aufzeigen, was das Kind richtig gemacht hat, ohne die Leistung zu relativieren. Nichts stärkt das Selbstwertgefühl eines Kindes mehr, als die Anerkennung der Eltern.)

Kinder, die immer nur hören, was sie falsch und schlecht machen, werden irgendwann krank - psychisch und/oder physisch. Es liegt an uns, ihnen zu zeigen, dass wir stolz auf sie sind, trotz der Fünf in Mathe oder Deutsch, so machen wir es ihnen leichter, zu starken Persönlichkeiten heranzuwachsen.

Nicole Fischer